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Who is missing? And why?
Normierungen, Ausschlüsse und Weglassungen in der
Selbstdarstellung der Humboldt-Universität.
Welches
Bild von Wissenschaft und Wi_ssenschaftlerinnen wird durch die Ausstellung von
Skulpturen und Portraits im und um das Hauptgebäude der Humboldt-Universität
herum hergestellt? Welche Personen wurden in den verschiedenen historischen
Kontexten als Repräsenta_ntinnen der Universität ausgewählt und, vor allem,
welche nicht? An welchen Punkten finden wir uns in diesen Repräsentationen wieder,
an welchen nicht? Was sagt das über unsere eigenen Positionierungen? Solche und
ähnliche Fragen haben uns beschäftigt als wir begannen dieses Projekt zu
konzipieren.
Wir
sind 2 weiße, ableisierte, frauisierte,
bildungsprivilegierte Stud_entinnen der Gender Studies an der HU, denen es ein
Bedürfnis ist aufzuzeigen, dass die vermeintlich neutralen Konstruktionen von
Wissenschaft und deren Protago_nistinnen keineswegs neutral sind, sondern ein
ganz bestimmtes Selbstbild der Universität erzeugen, in dem viele Menschen
nicht mitgedacht und mitgenannt und viele Machtverhältnisse unsichtbar werden.
Menschen
gelangen in den meisten Fällen nicht nur aufgrund ihrer Leistung in die
privilegierte Positionierung ein_er berühmten Wissenschaftl_erin, di_er als einer
Ehrung in Form einer Skulptur oder eines Portraits als würdig befunden wird.
Die Möglichkeit in der Wissenschaft besonderes zu leisten und dafür auch
anerkannt zu werden ist ein Privileg, dass durch verschiedene miteinander
verwobene Machtverhältnisse bedingt ist und das vielen Menschen vorenthalten
blieb und bleibt.
Dies
zu zeigen ist eine Intention unseres Projektes auf die die Titelfrage abzielt,
wer denn fehlt und weshalb.
Wir
wollen jedoch auch zeigen, dass die von uns thematisierten Skulpturen und
Portraits und die Art wie sie präsentiert und (nicht) kontextualisiert werden
als Instrumente der universitären Selbstdarstellung zu verstehen sind, die
nicht nur vieles, was fragwürdig ist, hinsichtlich ihrer Kontexte verschweigen,
sondern auch bestimmte Normen voraussetzen und immer wieder neu herstellen.
Dies
geschieht auf vielfältigen Wegen wie Benennung, Verschweigung, räumlicher
Anordnung von ausgestellten Portraits oder Skulpturen und nicht zuletzt durch
unseren Blick. Wir hoffen, dass wir es geschafft haben euch einige davon
aufzuzeigen.
Wir
selbst haben an vielen Stellen während der Recherche gemerkt, wie schwierig es
ist Ausschlüsse und Normen zu erkennen, die uns selbst, als unter anderem
ableisierte, weiße, Statisierte
privilegieren und die uns darum häufig so selbstverständlich und
unproblematisch erscheinen, dass wir sie erst gar nicht wahrnehmen. Wir haben
dennoch versucht neben sexistischen Konstruktionen und Ausschlüssen durch die
wir selbst diskriminiert sind auch Konstruktionen von Weißsein und Diskriminierungsverhältnisse wie
Antisemitismus und Klassismus zu thematisieren.
In
jedem Fall ist es uns wichtig zu sagen, dass wir dieses Projekt als den Versuch
verstehen Fragen aufzuwerfen, die immer neue Fragen, in alle möglichen
Richtungen, nach sich ziehen.
Wir
wollen uns und im besten Falle auch euch zum Nachdenken bringen. Ersteres ist
uns bereits gelungen.
Verwendung des dynamischen Unterstrichs:
“Um
Binarisierungen weiter aufzubrechen und keine schriftbildliche Re_Präsentation
eines männlich-konventionalisierten Wortes mit ›angehängter‹
weiblich-konventionalisierter Endung aufzurufen, wandert der Unterstrich als ›d.U.‹
durch die personalen Appellationsformen.” (AK Feministische Sprachpraxis
(Hrsg): Feminismus schreiben lernen, 2011)
Verständnis von Machtverhältnissen:
Obwohl
wir uns in unserem Projekt nicht auf alle existierenden Machtverhältnisse und
Kategorisierungen explizit beziehen, gehen wir davon aus, dass diese immer im
Wechselspiel miteinander und auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen wirken
und nicht alleine stehen.
Kategorisierungen
auf die wir nicht eingehen, die aber eine ebenso wichtige Rolle für die
Herstellung von Normen spielen sind beispielsweise Behinderung/
Nichtbehinderung, Religion und Privilegierung aufgrund nationaler Zugehörigkeit.
Eine
unserer Überlegungen zu Behinderung/Nichtbehinderung bezog sich darauf, dass
die Art der Repräsentation der Personen dazu führt, dass die Personen als frei
von Behinderung einlesbar sind, wodurch Nichtbehinderung implizit als Norm
festgeschrieben wird.
Geschichtlicher Hintergrund/ zeitlicher
Rahmen:
Bei
einigen Kategorisierungen wie beispielsweise StaatsbürgerInnenschaft und Klasse
wird besonders deutlich, dass sie nicht auf alle historisch-politischen
Kontexte anwendbar bzw. an bestimmte Zeitspannen und Deutungskontexte gebunden
sind. Um dies grob zu verdeutlichen folgende Eckdaten:
Zur
Uni-Geschichte:
Die
Friedrich-Wilhelm-Universität wurde 1810 gegründet und 1949 in
Humboldt-Universität umbenannt.
Zu
den Lebensdaten der repäsentierten Personen:
Die
Lebenspannen der Personen, deren Repräsentationen von uns thematisert werden,
umfassen die Jahre 1762 (Geburtsjahr Johann Gottlieb Fichte) bis 1995
(Todesjahr Adolf Butenandt).
Zu
den historisch-politischen Kontexten:
Bis 1806: Heiliges Römisches Reich
Deutscher Nation
1815-1866:
Deutscher Bund (Staatenbund)
1867-1871:
Norddeutscher Bund
1871-1918:
Deutsches Kaiserreich
1919-1933: Weimarer
Republik
1933-1945:
Nationalsozialismus
1945-1949:
Von den Alliierten besetztes Deutschland
1949-1990:
DDR
1990-heute:
Bundesrepublik Deutschland
Kurations-/Installationskontext:
Bis
auf wenige Ausnahmen finden sich an den von uns thematisierten Repräsentationen
keine Informationen dazu wann diese erstmals installiert wurden und wer die
einzelnen Ausstellungsteile kuratiert hat.
So
fragten wir uns unter anderem warum beispielsweise der Entstehungskontext des
Marx-Zitates in Form einer Infotafel thematisiert wird und die Kontexte anderer
Portraitsammlungen/Skulpturen bzw. des Mahnmals nicht?
Zur Auswahl der kontextualisierten Repräsentationen
Wir
haben uns für unser Projekt auf jene Skulpturen und Portraits beschränkt, die
sich direkt im und um das Hauptgebäude herum befinden und die Personen
namentlich benennen und abbilden, die von der Uni als berühmte Gelehrte der
Humboldt-Universität bezeichnet werden. Außerdem haben wir das Marx-Zitat im
Foyer und das Mahnmal für die antifaschistischen Widerstandskämpfe_rinnen im
Hinterhof in unsere Recherche einbezogen. Wir hoffen damit ansatzweise zu
verdeutlichen welche Rolle die verschiedenen historischen Kontexte für die
erstmalige Installation sowie das Verbleiben, Verschwinden oder die neue
Besetzung einzelner Repräsentationen spielen.
Neben
den Karten und den Informationen in dieser Broschüre haben wir an einigen der
verzeichneten Portraits und Skulpturen Beschriftungen befestigt. Hierbei ist es
unser Anliegen zu den repräsentierten Persönlichkeiten und der Art wie sie präsentiert
werden, zu informieren oder Fragen zu stellen und auf Sachverhalte hinzuweisen,
die auf den teils vorhandenen Kontextkärtchen der Universität keine Erwähnung
finden.
Erst
am Ende unserer Projektarbeit sind wir auf weitere Repräsentationen wie
beispielsweise die 2010 auf Initiative von S_tudentinnen der Humboldt-Universität
verlegten Stolpersteine vor dem Eingangstor des Hauptgebäudes und auf weitere
im und um das Hauptgebäude herum befindliche Gedenktafeln gestoßen. Obwohl wir
diese nicht in unser Projekt einbezogen haben, sollen sie hier nicht unerwähnt
bleiben.
Die von uns im Folgenden thematisierten Repräsentationen
sind der Installationslogik der räumlichen Anordnung der Uni folgend, in diese
Untergruppen unterteilt:
Skulpturen vor, neben und hinter dem Hauptgebäude
(EG)
Installation des Marx-Zitates im Foyer (EG)
Portraitreihe Nobelpreisträg_erinnen (1. OG)
Portraitreihe Rekto_rinnen und Präs_identinnen
(1. OG)
Portraitreihe Frausierte Wi_ssenschaftlerinnen
(1. OG)
Portraitreihe Phi_losophinnen (2. OG)
Mahnmal für die im Kampf gegen den
Hitlerfaschismus Gefallenen (EG)
Karte der
thematisierten Repräsentationen_Fragen
und Anmerkungen zu den Repräsentationen
1_ Warum werden die
Entstehungskontexte und die Geschichten der Skulpturen nicht thematisiert?
2_ Warum steht auf dem
Mahnmal der Terminus Hitlerfaschismus und
nicht Nationalsozialismus oder deutscher Faschismus?
Welcher Eindruck
entsteht dadurch?
Wann und von wem und
unter welchen politischen Maßgaben wurden welche Statuen aufgestellt?
Welche Art des Gedenkens
kommt heute noch/ nicht mehr vor?
Wem wird nicht gedacht und welche Ausschlüsse werden dadurch
(re)produziert?
3_ Wann und von wem und unter welchen politischen Maßgaben wurden die
Statuen aufgestellt?
4_ Welches Bild von Philosophie wird durch die
Potraitauswahl produziert?
5_ Warum wurde mit Marlis Dürkop erst 1992 erstmals
eine Frauisierte Rekto_rin? Warum blieb sie bis heute die einzige? Warum ist
Marlis Dürkop nicht portraitiert? Welcher Eindruck entsteht dadurch?
6_ Wie wird das Marx-Zitat heute kontextualisiert
und welcher Eindruck entsteht dadurch? Würde das Marx-Zitat noch hängen, wenn
es nicht unter Denkmalschutz stünde?
7_ Gibt/ Gab es Nobelpreisträg_erinnen
an der Friedrich-Wilhelm-Universität/ Humboldt-Universität, die bspw. nicht als
weiß und typisiert einlesbar sind?
8_ Wer
hat die Bildergalerie zu den Wissenschaf_tlerinnen/Stude_ntinnen and der
Friedrich-Wilhelm-/Humboldt-Universität kuratiert und wann wurde diese
Portraitsammlung installiert?
Nach
welchen Kriterien wurden die Personen/Biographien ausgewählt?
Welche
Frauisierten werden hier nicht gezeigt? > Frauisierte die unter prekären
Bedingungen (d.h. unbezahlt und ohne jemals für ihre Leistungen gewürdigt und
anerkannt worden zu sein) wissenschaftlich tätig waren noch bevor offizielle
Immatrikulationen in Deutschland möglich wurden, werden hier nochmalig
weg_genannt.
>
Das verbindende Element der dargestellten Frauisierten besteht darin, dass sie
um die Jahrhundertwende (19./20. Jh.) lebten und damit Protagonistinne_n des
bis dahin verbotenen und dann erstmals erkämpften Zugangs Frauisierter zu höherer
schulischer und universitärer Bildung in Deutschland waren.
Warum
wird dieser Hintergrund nur punktuell in den Infotexten erwähnt und die
diskriminierende Struktur, deren Teil diese Uni war, ent_erwähnt?
Finanzielle
Privilegierung/ Bildungsprivileg
Welche
der repräsentierten Personen sind nicht in finanziell privilegierten Verhältnissen
aufgewachsen?/ Welche der repräsentierten
Personen sind nicht in Akade_mikerinnen-Familien aufgewachsen in denen ihnen
Bildung nahegelegt und ermöglicht wurde?
Johann
Gottlieb Fichte_42/74
Peter
Debye_33
Mit
finanzieller Privilegierung beziehen wir uns auf die wirtschaftlichen Verhältnisse
und den sozialen Status der Familien in denen die Personen aufgewachsen sind.
Im Rahmen unserer Recherche stellten wir fest, dass unter den häufigsten
Berufen der Väter Kaufmann, Beamter, Anwalt, Pfarrer, Lehrer, Professor, Arzt
und Großunternehmer genannt werden.
Warum
wurden in unseren Quellen nur die Berufe der Väter benannt? Warum wurden die Mütter
höchstens namentlich genannt oder über ihre Herkunftsfamilie (= Väter)
definiert?
Warum
fanden wir keine Biographien jenseits der als selbstverständlich suggerierten
heterosexuellen Familie (Vater-Mutter-Kind-Modell)?
Wie
unüberwindlich waren Stände- und Klassengrenzen im 18., 19. und Anfang des 20.
Jahrhunderts und wie durchlässig sind sie heute?
Der
Begriff Bildungsprivileg bezeichnet den Umstand, dass Kinder aus finanziell privilegierten
Familien hohe Chancen haben eine höhere Schule oder Universität zu besuchen.
Wir gehen außerdem davon aus, dass es auch unabhängig von finanzieller
Privilegierung für Kinder, die in Akademike_rinnen-Familien sozialisiert
werden, leichter ist Zugang zu höherer Bildung zu erlangen.
Warum
stabilisiert Politik diese Bildungsprivilegien noch heute?
Weißsein
Welche
der repräsentierten Personen sind
nicht als weiß konstruiert/ lesbar gemacht?
0
Personen
In
Anlehnung an die Definition aus Mythen, Masken und
Subjekte (Maureen Maisha Eggers et al.) verstehen wir Weißsein als eine Kategorie, die nicht natürlich gegebene
Sichtbarkeit, sondern hergestellte, interpretierte und praktizierte
Sichtbarkeit beschreibt.
Wir
gehen davon aus, dass die Personen ausnahmslos als weiß eingelesen werden, wodurch ein Bild weißer Wissenschaft (re)produziert wird und Person of
Color-Wissenschaftl_erinnen ent_nannt werden. Zudem wird die aktive Rolle, die
viele Wissenschaftl_lerinnen im Kolonialismus gespielt haben sowie deren
Beteiligung an kolonialistischer Ausbeutung und Ermordung von People of Color
im Namen der Wissenschaft ent_erwähnt.
Geschlecht
Welche
der repräsentierten Personen sind nicht der Kategorisierung Typisierte
zugeordnet?
Rahel
Hirsch_75
Paula
Hertwig_76
Hedwig
Hintze_77
Gertrud
Kornfeld_78
Charlotte
Leubuscher_79
Liselotte
Herrmann_80/90
Marie
Elisabeth Lüders_81
Rhoda
Erdmann_82
Lise
Meitner_83
Hedwig
Dohm_84
Liselotte
Richter_85
Gertrud
Bäumer_86
Alice
Salomon_87
Liselotte
Welskopf-Heinrich_88
Agnes
von Zahn-Harnack_89
Mildred
Harnack-Fish_92
Liane
Berkowitz_93
Ursula
Goetze_94
Eva-Maria
Buch_95
Rosemarie
Terwiel_96
Geschlecht
wird in den Repräsentationen der Personen als zweigeschlechtlich konstruiert
und eingelesen. Das heißt die Personen werden als Frauen oder Männer
dargestellt. In Anlehnung an Feminismus schreiben
lernen (AK Feministische Sprachpraxis) nennen wir diese
Konstruktionen Frauisierte und Typisierte.
Warum
handelt es sich bei den repräsentierten Personen zu 80 % um Typisierte?
ZweiGenderung
Welche
der repräsentierten Personen sind nicht einem System von ZweiGenderung (d.h. in
Frauisierte und Typisierte eingeteilt) zugeordnet?
0
Personen
ZweiGenderung
ist die Annahme, dass es 2 Geschlechter gibt und dass alle Menschen sich
eindeutig einem der beiden Geschlechter zuordnen lassen. Diese Unterscheidung
wird als selbstverständlich, natürlich, unhinterfragbar und objektiv gesetzt.
Neben
stereotypen Darstellungen von Kleidung und Habitus wird dieser Eindruck auch über
die Namen erzeugt. Die Vereindeutigung von Geschlecht wird neben solch
kulturellen Tradierungen von Geschlechternormen auch durch unsere Vorannahmen
und unseren Blick vollzogen.
Auf
der Ebene der Austellungskuration wird ZweiGenderung auch durch die Separierung
der Frausierten im Flur der Wissensch_aftlerinnen erzeugt.
Welcher
Raum bleibt in diesen binären Konstruktionen für Trans- und Intersex-Menschen?
Übersicht der
hinzugefügten Kontextualisierungen, Anmerkungen und Fragen in Form von
Beschriftungen im und um das Hauptgebäude herum.
Alexander
von Humboldt_2 Welche Rolle spielen Personen wie Alexander von Humboldt für die Beschönigung,
Romantisierung und Ent_Nennung von Kolonialismus im Rahmen der Konstruktion des
Entdeckermythos? Warum wird Alexander von Humboldt bis heute im deutschen
Kontext fast ausschließlich positiv gezeichnet? Wo ist die kritische
Auseinandersetzung mit der deutschen kolonialen Vergangenheit und der Kontinuität
kolonialistischen Habitus’?
Arthur
Schopenhauer_70 „Sie sind sexus sequior, das in jedem Betracht zurückstehende
Geschlecht, dessen Schwäche man demnach schonen soll, aber welchem Ehrfurcht zu
bezeugen über die Maaßen lächerlich ist...“ (Arthur Schopenhauer: Ueber die Weiber.
In: Parerga und Paralipomena - Kleine philosophische Schriften, 1851; Zitiert
aus A. Schopenhauer Sämtliche Werke, 2. Band, E. Brodhaus Verlag, Wiesbaden
1947, S. 657-658)
Ist Schopenhauers Misogynie eine Ausnahme in der Philosophie und unter
den hier portraitierten Philos_ophinnen? Ist sie nicht konstitutiv für seine
Theoriebildung? Ist sie unerheblich für die Würdigung seiner Philosophie? Was
macht die Normalisierung misogyner Wissenschaft mit frauisierten
Wissenschaft_lerinnen?
Johann
Gottlieb Fichte_42/74 „Derjenige
Jude, der [...] zur allgemeinen Gerechtigkeits-,
Menschen- und Wahrheitsliebe
hindurchdringt, ist ein Held und ein Heiliger. Ich weiß nicht ob es deren gab
oder gibt. Ich will es glauben, sobald ich sie sehe [...] Menschenrechte müssen
sie haben, ob sie gleich uns dieselben nicht zugestehen [...] Aber ihnen Bürgerrechte
zu geben, dazu sehe ich kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe
abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee
sei. Um uns vor ihnen zu schützen sehe ich kein anderes Mittel, als ihnen ihr
gelobtes Land zu erobern und sie alle dahin zu schicken.“ (Johann Gottlieb
Fichte: Beiträge zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische
Revolution, 1793; Zitiert aus: J. G. Fichte: Schriften zur französischen
Revolution, Reclam Verlag, Leipzig 1988, S. 143-144)
Wie neutral ist Philosophie? Wann und wie wird Antisemitismus
ent_nannt oder normalisiert?
Warum und seit wann hängt Fichte hier (immer
noch)? Was sagt das? Und wie fühlt es sich an? Für wen? Wer ist hier implizit
angesprochen?
Gertrud Bäumer_86 Gertrud Bäumer war
antisemitisch. “Sie selbst definierte sich als Gegnerin des Antisemitismus, es
gab jedoch ZeitgenossInnen, die sie für eine verkappte Antisemitin hielten.
Bekanntlich verhinderte Bäumer 1919 die Wahl von Alice Salomon als Vorsitzende
des BDF [Bund deutscher Frauenvereine_unsere Anm.]. Offiziell unterband sie
Salomons Kandidatur mit dem Hinweis auf die antisemitische Grundstimmung in der
Öffentlichkeit. [...] Außenpolitisch unterstützte Bäumer die
Nationalsozialisten bis zuletzt. Ihr Traum von einem Großdeutschen Reich war
ihr so wichtig, dass sie die Verfolgung, Ausgrenzung und Ermordung von „Nichtariern“
und „Nichtarierinnen“ nicht oder nur begrenzt wahrnahm. Ihre Gedanken kreisten
vornehmlich um sich selbst und das eigene Werk. Die eigenen publizistischen und
rednerischen Wirkungsmöglichkeiten wurden hoffnungslos überschätzt, und der
Schaden, den sie durch Anpassung und selektive Wahrnehmung anrichtete, wurde
nicht reflektiert. Bäumer zählte sich selbst zur Fraktion der „inneren
Emigration“, die sie dem politischen Widerstand zuordnete.“ (Elke Kleinau:
Sammelrezension: A. Schaser: Helene Lange und Gertrud Bäumer, 2004 Zitiert aus:
http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=34307)
Lise
Meitner_83 Lise Meitner war „maßgeblich an der Entdeckung der Kernspaltung
beteiligt“ (siehe Portrait Nr. 83). Lise Meitner musste 1938 im Zuge des
Anschlusses von Österreich aufgrund antisemitischer Verfolgung nach Schweden
fliehen und wurde wie Fritz Straßmann bei der Verleihung des Nobelpreises an
Otto Hahn übergangen. Dies wird sowohl hier als auch im Infotext des Otto
Hahn-Portraits ent_erwähnt.
Adolf
Butenandt_34 Butenandt war der Nachfolger
von Carl Neuberg, der im Zuge des antisemitischen „Gesetzes zur
Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ 1934 als Direktor des
Kaiser-Wilhelm-Instituts für Biochemie entlassen wurde. Somit profitierte
Butenandt vom nationalsozialistischen System. Der Umstand dass Butenandt alle Institutsunterlagen mit dem
Vermerk „geheime Reichssache“ vernichtete, belegt seine Verstrickung in
NS-Verbrechen. Er arbeitete außerdem eng mit Günther Hillmann und Otmar
Freiherr von Verschuer, so genannter Rassenhygieniker und Eugeniker und
Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie zusammen. Verschuer und
Hillmann arbeiteten zusammen an einem Forschungsprojekt, bei dem sie von Joseph
Mengele Blutproben und Leichenteile aus Auschwitz erhielten. Es ist daher davon
auszugehen, dass Butenandt über dieses Forschungsprojekt und dessen
Versuchsreihen, informiert war.
Darüber hinaus war er selbst an dubiosen medizinisch-militärischen
Forschungsprojekten beteiligt. In Versuchsreihen zu Hämopoietin (Erythropoetin)
war er Versuchen an menschlichen Lebern nicht abgeneigt.
Im Nachkriegsdeutschland hat er ein Bild der reinen Wissenschaft
propagiert, die unabhängig von politischen Systemen agiert. Butenandt trat bei
Entnazifizierungsprozessen für seine Nazi-Kollegen ein und argumentierte, dass
diese durch ihr Betreiben einer reinen Wissenschaft keine Schuld an Verbrechen
an der Menschlichkeit tragen und verhalf dadurch vielen Täter_innen zur
Rehabilitation.
Otto
Hahn_19 Otto Hahns politisch
desinteressierte Haltung bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten
verdeutlicht seine gesellschaftlich privilegierte Position im Vergleich zu
Personen wie z.B. Albert Einstein, der Deutschland schon im Jahre 1932 aufgrund
zunehmender antisemitischer Übergriffe auf seine Person verließ. Das lässt
darauf schließen, dass es Hahn möglich war, die zunehmend antisemitische
Atmosphäre zu ignorieren.
„Herr Hahn und ich erkannten seinerzeit sehr genau die Möglichkeit der
Gewinnung explosiver Energien, als wir 1938 die Kernspaltung vollzogen
hatten...“ (Klaus Hoffmann (1993), Otto Hahn – Schuld und Verantwortung, S.
159) Warum haben Hahn und Straßmann unter der gegebenen politischen Situation
in Deutschland weitergeforscht? Wie sieht es mit der Verantwortung der
Wissenschaft gegenüber Menschen aus? Haben Wissenschaftle_rinnen nicht die
Pflicht kontinuierlich zu reflektieren welche Konsequenzen die
Forschungsergebnisse nach sich ziehen könnten? Wem sie nutzen und wem sie
schaden können? Warum wird Wissenschaft immer als neutral und unabhängig von
gesellschaftlichen Kontexten gesetzt?
Darüber hinaus wird Lise Meitner, die „maßgeblich
an der Entdeckung der Kernspaltung beteiligt“ war (siehe Infotext des Portraits
Nr. 83) hier ent_erwähnt. Lise Meitner musste 1938 im Zuge des Anschlusses von Österreich
aufgrund antisemitischer Verfolgung nach Schweden fliehen und wurde wie Fritz
Straßmann bei der Verleihung des Nobelpreises übergangen.
Alice
Salomon_87 1919 unterband die in diesem
Flur ebenfalls portraitierte Getrud Bäumer in vorauseilendem Antisemitismus
Alice Salomon’s Wahl zur Vorsitzenden des Dachverbandes der deutschen
Frauenbewegung (Bund deutscher Frauenvereine - BDF).
Unter Bezugnahme auf ihre „jüdische Herkunft“ setzten
Mitarb_eiterinnen dieser Universität die antisemitische Verfolgung im Falle von
Alice Salomon sofort nach Machtergreifung 1933 um. Der in den Infotexten der
Portraitreihe durchgängig verwendete Begriff „jüdische Herkunft“ wurde von den
Nazis eingeführt, willkürlich zugeschrieben und als Begründung für Verfolgung
und Ermordung der so Bezeichneten angeführt. Alice Salomon schreibt darüber in
ihrer Biographie. (Charakter ist Schicksal – Lebenserinnerungen, Beltz Verlag,
Weinheim und Basel, 1983, S. 236 ff. Originaltitel: Character is destiny,
geschrieben 1940, erstmals veröffentlicht in deutscher Übersetzung 1983 und in
der Originalausgabe 2004)
Hedwig
Hintze_77 Wurde Hedwig Hintze die Lehrbefugnis „aufgrund ihrer jüdischen
Herkunft“ entzogen oder aufgrund staatlich organisierter antisemitischer
Diskriminierung, die von den Mitarbeite_rinnen dieser Universität, zum eigenen
Vorteil, umgesetzt wurde?
Wie werden Verantwortlichkeiten und Verfolgung ent_nannt und
nationalsozialistische Begründungsmuster wiederholt?
Ein vergleichendes Beispiel:
Infotext des Portraits Nr_77: „1941 folgte ein Ruf als Associate
Professor of History an die New School for Social Research in New York, dem sie
wegen der deutschen Besatzung der Niederlande nicht mehr folgen konnte.“
(A_utorin unbenannt)
Vs.
Infotext der Hedwig Hintze-Gesellschaft: „Kurz vor Kriegsausbruch floh
sie in die Niederlande, in der Hoffnung eine Ausreisegenehmigung zu bekommen.
Nach dem Tod ihres Mannes 1940 und gescheiterten Einreiseversuchen in die USA,
ohne finanziellen Rückhalt und seelisch am Ende nahm sie sich vermutlich -
unter noch nicht ganz geklärten Umständen - im Juli 1942 in Utrecht das Leben.“
(Autorin Dr. Elisabeth Dickmann; Zitiert aus:
http://www.hhi-bremen.de/hedwig.html)
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